von Gabriele Gawlich
Die aufgeregte Diskussion in den Medien um die immer mehr bekannt werdenden Missbrauchsfälle befremdet mich immer mehr. Ich beobachte, dass diese öffentliche Diskussion ziemlich am Thema vorbeigeht - nein, schlimmer noch, sie verstellt den Blick auf die Realitäten.
Damit ihr meine Schlussfolgerung nachvollziehen könnt, will ich mal meine Vision davon schildern.
Da ist also eine große Institution. Sie ist wie ein großes Gebäude, deren Turm bis in den Himmel reicht. Die Würdenträger in dieser Institution glauben, das Volk Gottes zu sein, die ihre Inspiration vom Heiligen Geist haben und beanspruchen moralische Unfehlbarkeit für sich. Aber sie bemerken nicht, dass ihre Verbindung nach oben schon seit Jahrhunderten offline ist. Und ihre Verbindung zu den ihnen Anvertrauten ist dementsprechend auch offline.
Dann ist da ihre Schwesterinstitution, deren Gebäude kaum weniger wuchtig sind und deren Ansprüche kaum weniger anmaßend - auffällig war das lange Schweigen ihrer Würdenträger, bis auch sie vom Missbrauchsskandal erreicht wurden.
Weiter ist da die Institution, die für die Bildung der jungen Menschen steht. Sie will ihnen den Weg in die Zukunft zeigen, sie ausrüsten, damit sie wiederum Wegbereiter für die Zukunft werden. Aber was haben sie die Kinder wirklich gelehrt?
Und um noch eine Institution zu benennen, die ganz kleine, die kleinste Zelle der Gesellschaft. Sie soll ein Hort der Geborgenheit für die Kinder sein, ein warmes Nest, ein Schutzraum. Wir wissen alle, dass diese Bild der Realität nicht standhält. Oft ist die Familie ein Ort größten Schreckens für die Kinder.
Diese Institutionen stehen stellvertretend für andere. Kindesmissbrauch ist kein Phänomen der vergangenen vier Wochen. Und auch die Existenz von sexueller Gewalt gegen Kinder ist schon seit Siegmund Freud in der Wissenschaftsgemeinde bekannt.
Ich will diese Institutionen für ihr Verhalten nicht entschuldigen – dafür gibt es keine Entschuldigung. Sie haben allesamt versagt. Sie sind ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden.
Aber eines weiß ich und das lasse ich mir von niemand mehr kaputt reden und das gilt für jede einzelne Tat der sexuellen Gewalt an Kindern:
Schuld ist nur EINER - der/die Täter/in
Das kann man soziologisch trefflich untersuchen - da ist nämlich in Bezug auf Forschung bis heute nicht viel passiert. Das ist ein völlig unbeackertes wissenschaftliches Feld für angehende Bachelors, Masters oder bereits etablierte Wissenschaftler. Soziologen kennen das: Strukturen beeinflussen Akteure, stellen aber keine Akteure her. Aber Akteure können Strukturen bilden und verändern. Man kann das Versagen der Institutionen untersuchen, vergleichen, nach Gemeinsamkeiten suchen. Man kann Werkzeuge entwickeln, die helfen, solchem Systemversagen vorzubeugen. Vielleicht entdeckt man, dass man bestimmte Institutionen nicht mehr benötigt.
Aber all dies geschieht nicht.
Was geschieht ist folgendes: Es wird immer lauter, immer hysterischer geschrieen. Um bei meinem Bild zu bleiben: Man kann weder die Opfer noch die Täter mehr erkennen. Die Opfer werden mit den Steinen der bröckelnden Institutionen regelrecht erschlagen. Anstatt zu fragen, was sie, die Überlebenden, brauchen, wie man ihnen helfen kann – kreischt man gegen Mauern an. Manche wagen sich, den Opfern eine Mitschuld zuzuweisen, ich denke, um ihre eigene Verantwortung nicht wahrnehmen zu müssen. Ich warte darauf, dass wieder einmal "Opfer" künstlich produziert werden.
Und die Täter können sich bequem in dieser Diskussion unsichtbar machen. Sie warten ab, wenn sich alles beruhigt hat, machen sie weiter. Sie müssen nicht fürchten, für ihre Taten belangt zu werden. Sie sind ja entschuldigt – sie sind pädophil. Denn darüber ist sich die Öffentlichkeit einig – Kinder werden von Pädophilen missbraucht. Die Realität ist aber anders – die wenigsten Missbrauchstaten werden von Pädophilen verübt, der größere Teil sind Gewalttaten.
Das Geschrei verstopft uns die Ohren und verstellt uns den Blick. Die Täter sind schuld – die Institutionen tragen Verantwortung (Akteure – Strukturen). Wir müssen die Strukturen ändern, um den zukünftigen Opfern zu helfen. Schreien hilft hier nicht.
Wer will: Weiterzwitschern