Noch bis zum März 2015 ist im Jüdischen Museum Berlin die Ausstellung "Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung" zu sehen.
Der Tenor der zahlreichen medialen Berichterstattung preist geradezu einmütig einen angeblich hohen Wert der Themenaufarbeitung und eine vielschichtige, sachliche, unaufgeregte und informative Darstellung. Wir waren vor Ort, um uns selbst ein Bild zu machen. Um es vorweg zu nehmen: diesem ihr zugeschriebenen Anspruch kann sie nicht gerecht werden.
„Schade, wir finden, dass hier ein sehr interessantes und wichtiges Thema behandelt wurde – leider jedoch sehr tendenziös und wenig reflektiert. (…) Der ironische Unterton, der bereits durch die Banane deutlich wurde, scheint zu sagen, dass Beschneidung ja „nicht so schlimm“ sei... (…) Eine (selbst-)kritische Analyse des Themas, d.h. bspw. auch Vergleich FGM/FGC [Anm.d.Autoren: weibliche Genitalverstümmelung] vs. männliche Beschneidung, Religionsfreiheit und Recht auf körperliche Unversehrtheit wäre schön gewesen. Vielleicht bei der nächsten Ausstellung.“
(Zitat aus dem Gästebuch der Ausstellung)
Leider gleicht „Haut ab!“ eher einer Werbeveranstaltung für Kinderrechtsverletzungen unter tatkräftiger Mithilfe diverser Theologen und Akademiker, die der Ausübung fragwürdiger ritueller Gewaltpraktiken an Kindern generell eine Daseinsberechtigung liefern. Nüchtern betrachtet findet man in den vier Räumen der Ausstellung kaum etwas, was nicht schon bei einer kurzen Google-Suche nach "Beschneidung" auftauchen würde - und dies verblüffend wenige geht kaum über die Präsentation folkloristischer Elemente hinaus.
Der Titel der Ausstellung "Haut ab!" dient keiner fairen Auseinandersetzung, sondern leistet durch seinen pauschalen Antisemitismusvorwurf einer Verunsachlichung der Debatte Vorschub. Des weiteren muss es angesichts des Titels "Haltungen zur rituellen Beschneidung" verwundern, dass medizinische. psychologische und kinderrechtliche Aspekte über eine oberflächliche Erwähnung hinaus keine Berücksichtigung in der Konzeption finden. Ehrlicherweise müsste es "UNSERE Haltungen" heißen, denn die suggerierte inhaltliche Auseinandersetzung mit Grundrechtskonflikten und Perspektiven von Beschneidungsopfern bleiben fast völlig aus.
Das selbst erklärte Ziel der Ausstellung ist es "dem Thema der religiös motivierten Knabenbeschneidung in den drei monotheistischen Religionen Tiefe zu geben (...) und (..) zu zeigen, welchen essentiellen Stellenwert dieses Ritual sowohl für das Judentum als auch für den Islam bis heute hat" (Cilly Kugelmann., Programmdirektorin). Und genau das tut sie dann auch, indem sie ihren Fokus auf religiös-kultisch-mystische Aspekte beschränkt.
Eine gleich zu Beginn der Ausstellung präsentierte hinlängst bekannte Weltkarte der WHO von 2007 verzeichnet diejenigen Länder, in denen Vorhautamputationen an männlichen Kindern praktiziert werden. Anhand der prozentualen Rate soll sie als Zeichen weltweiter Akzeptanz des Eingriffs dienen, wobei sich dieses auf ein eher simples "wenn es so viele machen, kann es nicht falsch sein" beschränkt. Dergleichen grob vereinfachende Argumentation wurde schon in der Debatte 2012 vielfach genutzt und bietet so nicht den geringsten Neuwert an Erkenntnissen: schließlich kommen derart hohe Zahlen statistisch nachweisbar nur dadurch zustande, dass Vorhautamputationen Kindern aufgezwungen werden, also in den allermeisten Fällen nicht in mündiger Entscheidung der Person stattfinden, die den Eingriff erdulden und lebenslang die erheblichen Folgen tragen muss.
Diese Weltkarte ist im Hinblick auf die Akzeptanz von Zwangsbeschneidung in etwa so aussagekräftig wie eine Karte mit Kennzeichnung aller diktatorisch regierten Ländern, aus der man schließen würde, wie viele Menschen weltweit gerne unter Gewaltherrschaften leben. Zu einer umfassenderen Information für die AusstellungsbesucherInnen vermisst man auf der Karte den Vermerk jeweiliger Fallzahlen zumindest der Komplikationen, die einen Krankenhausaufenthalt notwendig machen (von Blutungen über Infektionen bis hin zu Fällen, in denen der komplette Penis im Nachhinein amputiert werden musste) sowie die in der Weltpresse dokumentierten Todesfälle.
Das Publikum der Ausstellung erwartet weiter ein buntes Potpourri an folkloristischen Gegenständen. Ein Kissen, Statuen, Gewänder, ein Prinzenkostüm, wie es muslimische Jungen bei den Feierlichkeiten tragen, eine Vielzahl an historischen Beschneidungsinstrumenten und andere Relikte mit entsprechendem Bezug fallen dem Besucher ins Auge. Eine Erläuterung ihrer Bedeutung hingegen kommt zu kurz - wer nicht schon vorher wusste, warum die Jungen als Prinzen auftreten, wird dieses Wissen auch aus der Ausstellung nicht mitnehmen können.
Zu sehen auch ein modernes steriles Einweg-Beschneidungs-Set, das scheinbar alles enthält, was zu einer Beschneidung gehört - vom Messer über Verbände bis hin zu einer Duft-Gewürzmischung für den Segensspruch. Was erst auf den zweiten Blick auffällt ist, dass keinerlei Betäubungsmittel enthalten sind - nicht einmal die rezeptfrei erhältliche EMLA-Creme, die trotz ihrer nachgewiesenen Nichteignung noch von vielen Beschneidern als das Mittel der Wahl angesehen wird, wenn eine Betäubung stattfinden soll.
„I do miss „stances“ - as the title implies. And do agree on having circumcision legal – but oppose it very much- it is mutilation and irreversible. (…) And no info on historic roots in Judaism!“
("Ich vermisse die "Haltungen", die der Titel impliziert. Ich stimme einer Legalität der Beschneidung zu - lehne sie jedoch stark ab - es ist eine Verstümmelung und irreversibel. (...) Zudem keine Informationen über die historischen Wurzeln im Judentum!")
(Zitat aus dem Gästebuch der Ausstellung)
Alles in allem bleibt der fade Nachgeschmack, dass hier von der eigentlichen Operation und all ihren möglichen sowie unvermeidlichen Folgen bewusst abgelenkt werden soll, um den Mythos des "kleinen Schnittes" und seiner Harmlosigkeit nicht zu gefährden. Es ist schon bezeichnend, dass die Einträge im Gästebuch und ein Überfliegen der im Museumsbuchladen erhältlichen Literatur (bei der eigentlich nur das Buch von Prof. Matthias Franz „Die Beschneidung von Jungen“ fehlte) mehr Information bieten als die eigentliche Ausstellung.
Im die Ausstellung beschließenden Medienraum bietet sich neben Ausschnitten aus der Bundestagsdebatte und medialen Geschmacklosigkeiten aber schließlich doch eine echte Überraschung: In einem Ausschnitt aus dem Film „Cut“ von Eliyha Ungar-Sargon kann man dann doch noch medizinische Details zur männlichen Vorhaut und den Folgen ihres Verlustes erfahren. Leider wird die hier vorgestellte kontroverse Diskussion nirgendwo aufgegriffen, obwohl sie auch innerhalb des Judentums stattfindet.
Wer die 25 Euro für den aufwändig gestalteten Katalog zur Ausstellung ausgibt, kann erheblich tiefere Einblicke in die Gedankenwelt derer gewinnen, die die Vorhautamputation an nicht einwilligungs- und urteilsfähigen Jungen so vehement propagieren. Er enthält diverse Essays, die sich dem Thema aus religiös-kultureller Sicht nähern, und offenbart einige Sichtweisen und Interpretationen, die weitaus stärker irritieren als die beschriebene inhaltsarme Ausstellung selbst.
Man versäumt in dem 175 Seiten starken Katalog nicht zu erwähnen, dass 60% aller männlichen Juden in Schweden mit vollständigem Genital leben. Ebenso findet sich die Information, dass es eine Bewegung namens "Jews against circumcision" gibt. Ein Satz über den vehementen Widerstand des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte gegen die Legalisierung der Zwangsbeschneidung wird ebenfalls fallengelassen, und selbst Maimonides' Ausführungen aus dem 12. Jahrhundert hat man abgedruckt, in denen er den Verlust sexuellen Gefühls ausdrücklich als eines der Ziele der Beschneidung nennt und (wie es auch Ilkılıç noch 900 Jahre später tut) nur den Erhalt der Fortpflanzungsfähigkeit für wichtig erachtet. Doch nichts davon wird erläutert und keiner der Widersprüche aufgegriffen, die sich damit für die Grundaussage der Ausstellung ergeben.
Die genannten Hinweise wirken so beinahe exotisch und als seien sie keine „Haltungen“, auf die es sich lohnte, weiter einzugehen. So bleiben im Ganzen geschätzt zehn isolierte Sätze mit kritischen Angaben eingerahmt von 165 Seiten Forderungen nach Kinderrechtsabschaffung, pauschalen Antisemitismusvorwürfen, ausführlich "begründeten" Mythen und Falschbehauptungen.
Dr. İlhan Ilkılıç, Mediziner und Islamwissenschaftler, verkündet folgendes:
„Die Implikationen des Kindeswohls können nicht universell und kulturinvariant bestimmt werden.(…) ...das Kind würde innerhalb seiner eigenen Kultur- und Religionsgemeinschaft Diskriminierungen und Ausgrenzungen erleben.“
Ilkılıç lässt die Möglichkeit außer Acht, dass eine Ausgrenzung und Diskriminierung sich auch auf anderem Wege vermeiden ließe als mit einer zwangsweisen Anpassung des Kindes an die Vorstellungswelt der Erwachsenen. Er stellt sie nicht nur als ein unveränderliches Faktum dar, er verteidigt sie damit auch. So stellt er sich jeglichem Bestreben, Diskriminierungen von Einzelnen und Minderheiten zu beseitigen, diametral entgegen, indem er diese zum schützenswerten Kern der Gemeinschaft erhebt. Die großen Erfolge, die Menschenrechtler in den Vergangenheit zum Beispiel im Bereich der Gleichberechtigung von Frauen und bei der Abschaffung der Apartheid erzielen konnten, wären bei dieser Sichtweise nicht nur nicht möglich gewesen, sie müssten auch als kulturzerstörend interpretiert werden.
„Denn wir haben es hier nicht mit einer lebensgefährlichen Situation eines Kindes zu tun (...)"
Hier geht er sogar noch weiter, indem er den Akzeptanzrahmen auf unfassbare Grenzen erweitert - solange es nicht lebensgefährlich ist, soll es in Ordnung sein.
"Ebenso kann nicht von einer Organschädigung oder der damit verbundenen Organdysfunktion gesprochen werden, wie sie bei der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen vorkommt. Bekanntermaßen gehört die Beschneidung in manchen Ländern - wie in den Vereinigten Staaten - zu den akzeptierten medizinischen Präventionsmaßnahmen (...) Deswegen ist die Identifizierung dieser Maßnahme mit einem gesundheitlichen Schaden - was in der öffentlichen Diskussion oft unterstellt wird - nicht hinnehmbar."
Dr. Ilkilic bagatellisiert die möglichen wie unausweichlichen Folgen der Vorhautamputation. Damit widerspricht er gleich mehrfach unter anderem dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), welcher einen gesundheitlichen Schaden durchweg bestätigt und den weitreichenden Verlust sensiblen Gewebes als eine Schädigung ansieht. Gleiches gilt für die behauptete Akzeptanz als medizinische Präventionsmaßnahme - diese ist weltweit nur bei einem einzigen Kinderärzteverband zu finden, der US-amerikanischen AAP.
Die von Ilkılıç angesetzte geringe Schwelle, ab der ein Eingriff unbedenklich sein soll, öffnet unzähligen weiteren Praktiken Tür und Tor. Sofern sich diese von einem chirurgischen Standpunkt aus ohne gravierende Komplikationen ausführen lassen und das betreffende Organ nicht massiv schädigen, sieht er keinen Hinderungsgrund - der Erhalt der Fortpflanzungsfähigkeit ist hier der Maßstab.
Dass diese Kriterien sich problemlos auch auf die Tätowierung von Kleinkindern, Piercings, körperliche Züchtigung und nicht zuletzt auch auf die weniger invasiven Formen der weiblichen Genitalverstümmelung anwenden lassen, scheint ihm dabei entweder nicht aufgegangen oder schlichtweg egal zu sein.
Die UN-Kinderrechtskonvention jedenfalls wäre bei einer Adaption dieser Sichtweise auf ganzer Breite hinfällig.
In eine ähnliche Kerbe schlagen auch Dr. Felicitas Heimann-Jelinek und Dr. Cilly Kugelmann vom Jüdischen Museum:
„Körperliche Eingriffe gehörten jahrtausendelang zum symbolischen Ausdruck von Religionen und haben sich in einigen Regionen der Welt bis heute erhalten. Es gibt Gesellschaften, die traditionell tätowieren, also Ziernarben in den Körper ritzen, die piercen und beschneiden oder andere Körpermanipulationen vornehmen.“
Hier wird der Eingriff alleine über die Dauer seines Bestehens zu rechtfertigen versucht. Eine Differenzierung, in welchem Alter und mit welchem Anteil an Freiwilligkeit des Betroffenen sie durchgeführt werden, bleibt ebenso aus wie die Abgrenzung einer symbolischen Handlung von einem körperlichen Eingriff. Auch hier ist wieder der Tenor zu vernehmen, dass eigentlich alles zu rechtfertigen ist, was es nur lange genug gibt, und auch hier findet sich, wie auch schon bei Ilkılıç, erneut ein fruchtbarer Boden für eine wahre Flut an möglichen Praktiken, die anerkannten Kinderrechten zuwider laufen, was sich nicht zuletzt in der sehr weiten Formulierung "oder andere Körpermanipulationen vornehmen" widerspiegelt.
„Nice historic exhibit, but let´s not pretend it`s unbiased. Circumcision is a Human Rights Issue. Religion, tradition and the desire of parents do not constitute a reason to cut a newborn child.“
("Nette historische Ausstellung, aber machen wir uns nicht vor, sie wäre unvoreingenommen. Beschneidung ist eine Menschenrechtsfrage. Religion, Tradition und das Begehren der Eltern rechtfertigen es nicht, ein neugeborenes Kind zu beschneiden.")
(Zitat aus dem Gästebuch der Ausstellung)
Dr. Yigal Blumenberg gibt im Katalog seine Sicht der psychologischen Zusammenhänge preis:
"Die Frage nach einer möglichen Traumatisierung des Säuglings ist also eine Frage nach der Stabilität und bergenden Qualität der vom Kind empfundenen und erlebten Bezugspersonen, die die Selbstliebe behüten."
"Daher kommt der inneren Haltung der Eltern, ihrer Identifizierung und die der bei der Beschneidung anwesenden Tradenten eine entscheidende Bedeutung für die seelische Integration dieses Erlebens zu."
Wenn Eltern also nur stark genug an den angeblichen Nutzen und die Verharmlosungen der dem Kind zugefügten Gewalthandlung glauben und grundsätzlich ihrem Kind Liebe und Fürsorge schenken, wird es dies nicht als Gewalt empfinden.
Wäre also auch z.B. sexueller Kindesmissbrauch weniger traumatisierend, nur weil er, wie so oft, in vertrautem Umfeld geschieht? Warum bleiben die bekannten Fälle ungenannt, wo gerade traumatisierend wirkt, dass der Übergriff in das Intimste aus dem eigenen Umfeld erfolgte und so zusätzlich u.U. lebenslange Loyalitätskonflikte auslöste?
Auch Dr. Thomas Lentes, Historiker und Theologe an der Universität Münster und Mitglied des dortigen "Exzellenzclusters Religion und Politik", reiht sich nahtlos in den undifferenzierten Rechtfertigungskanon ein. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk zur Berliner Ausstellung bezeichnet dieser Kritik an kulturellen und religiösen Markierungsriten als uralt und in erster Linie von Ressentiments und Überheblichkeit motiviert, welches es bereits bei den alten Griechen und Römern gegeben habe. Daraufhin spricht er ihr die Objektivität ab - was erstaunt, wo doch alle kulturellen Argumente für eine Beschneidung ebenso alt sind.
Erschreckend ist an diese Stelle die völlige Wahlfreiheit des Dr. Lentes - so erwähnt er in diesem Zusammenhang neben Bemalungen und Tätowierungen auch das Binden der Füße (der sogenannte Lotosfuß), wie es im Kaiserreich China praktiziert wurde. Bei dieser Praxis wurden kleinen Mädchen wiederholt die Fußknochen gebrochen und eng bandagiert, um das Wachstum zu hemmen und einen Klumpfuß zu formen. Diese - heutzutage nicht mehr praktizierte - kulturelle Körpermarkierung sieht er anscheinend als simplen kulturellen Unterschied an, ohne die Folgen für die Mädchen in die Überlegung mit einfliessen zu lassen.
Ähnlich äußerte er sich bereits im Juli 2012 in der Frankfurter Rundschau:
"Erst durch die kulturelle und religiöse Überformung – durch Bekleidung, Tätowierung, Mutilation [Verstümmelungen, Anm. d. Autoren] – wird seine Humanität und die Integration in die kulturelle und religiöse Gruppe vollzogen."
"Wie beim Binden der Füße in asiatischen Kulturen, dem des Kopfes in manchen afrikanischen, der kulturellen Manipulation der Ohren und dem Stechen von Tätowierungen in vielen Kulturen wird auch bei der Beschneidung eines angestrebt: die kulturell-religiöse Perfektionierung des Körpers, und keineswegs dessen Verstümmelung!"
Die Verstümmelung muss also seiner Ansicht nach ausschließlich aus der Perspektive und den Absichten der Erwachsenen heraus beurteilt werden, nicht am Eingriff selbst und dem Leid der betroffenen Kinder. Die Ausnutzung des Machtgefälles zwischen Erwachsenen und Kindern wird hier als probates Mittel der Durchsetzung patriarchalischer Strukturen offensichtlich unhinterfragt hingenommen.
„Bei allem Respekt vor Glaube und Religion, die Ausstellung macht eines deutlich, Beschneidung dient lediglich der Unterwerfung. Schade, mehr Fragen als Antworten.“
(Zitat aus dem Gästebuch der Ausstellung)
Nicht zu übersehen und äußerst bedauerlich ist auch der in den Aussagen der Veranstalter und an mehreren Stellen im Ausstellungskatalog deutlich werdende hilflos wirkende Versuch, der gesellschaftlichen Debatte in Deutschland um eine Legalisierung nicht-therapeutischer Vorhautamputationen im Jahre 2012 nachträglich einen zu großen Teilen antisemitisch motivierten Charakter zu geben. Vermutlich soll auf diese Weise die andauernde Aufklärungsarbeit vieler Kinder-, Frauen- und Menschenrechtler sowie aller pädiatrischer Fachgesellschaften diskreditiert werden. Angesichts der vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte genannten unverändert häufig anzutreffenden Komplikationen und der stetig wachsenden Zahl negativ betroffener Männer, die sich trotz gesetzlich festgelegter Empathieverweigerung trauen, über ihr Leid öffentlich zu berichten, lässt diese Strategie schon realitätsverweigernde Tendenzen erkennen.
Ebenso fehlt eine angemessene Erläuterung alternativer Rituale wie der sich in einigen jüdischen Gemeinden stetig größerer Beliebtheit erfreuenden Brit Shalom, die ohne chirurgischen Eingriff auskommen. Weiterhin wird verschwiegen, dass es im Islam überhaupt keine Verpflichtung im religiösen Sinne zur Vorhautamputation an Minderjährigen gibt, sondern dieses lediglich eine Empfehlung darstellt. Diese Information zumindest hätte man von einer Ausstellung erwarten dürfen, die sich einen religiösen Schwerpunkt auf die Fahnen schreibt. Stattdessen bemüht Ilkılıç den faktisch nicht haltbaren Mythos der Beschneidung als "elementare, unverzichtbare und unersetzliche Pflicht" im Islam. Zumindest in dieser Pauschalität Unwahres wird nicht wahrer, wenn man es mantraartig wiederholt.
Die zu dem Thema in der Zwischenzeit erschienenen kritischen wissenschaftlichen Publikationen bleiben unbehandelt. Eine kinderrechtliche Perspektive findet überhaupt keinen Platz in einer Sammlung über einen Übergriff, der Kindern zugemutet wird. Ihre Schmerzen und ihre Leiden haben in der Welt von Erwachsenen und deren Rechtfertigungskonstrukten keinen Platz.
Dass vom Museum auf diesem Grundkonzept aufbauende Schülerworkshops und Lehrerseminare angeboten werden ist bedenklich. Vor dem Hintergrund dessen, was das Museum den Besuchern anbietet, ist davon auszugehen, dass diese einseitig rituelle und ansonsten völlig unreflektierte Sichtweise ungefiltert in die Schulen getragen werden soll. Zudem ist angesichts der hohen medizinischen, psychologischen, rechtlichen und insbesondere individuell-sexuellen Komplexität der Thematik fraglich, ob eine "Für & Wider"-Abwägung im Schulalter überhaupt schon umfassend möglich ist.
Den Kindern wird dadurch verweigert, eine Sicht auf das Ritual zu entwickeln, welche ein Leiden an dessen Folgen nicht unterdrücken muss. Kritik an der Praxis und Empathie mit den Betroffenen wird frühzeitig mit Schuldgefühlen gegenüber den beschneidenden Communities belegt, fehlendes Mitgefühl, Wegschauen und Schweigen bei dieser Kinderrechtsverletzung nahezu anerzogen.
„Liebes Museum, leider wurde die Ausstellung nur sehr einseitig dargestellt. (…) Mir persönlich fehlt der Bezug zur sexuellen Selbstbestimmung und zur gelebten Sexualität. Welche Auswirkungen hat eine Beschneidung auf das sexuelle Empfinden des Mannes, sowie der Frau.“
(Zitat aus dem Gästebuch der Ausstellung)
Die Ausstellung wolle "um Akzeptanz für das religiöse und kulturelle Ritual der Beschneidung werben", so die Kuratorin. Ist es nicht etwas zu simpel gedacht zu glauben, dieses Ziel durch Ausschluss aller dies potentiell gefährdenden Perspektiven und der persönlichen Belange der negativ betroffenen Kinder, deren Körper und Rechte auf Selbstbestimmung verletzt werden, erreichen zu können?